Felder's Traum
Die Lebensgeschichte des Franz Michael Felder in Romanform

Felder's Traum
Leseprobe

»Ahne, ahne!«, seufzte die Dorothe schwer und machte sich dann in der Küche noch die verordneten Salbenwickel um beide Knie, ehe sie sich wieder an die Arbeit machte. Halb elf Uhr ging vorüber, dann elf Uhr. Aber sie konnte doch nicht so einfach ins Bett verschwinden, wenn er doch den ganzen Tag über noch nichts im Magen hatte. Wieder stand sie auf, trat vor die Tür und lauschte. Zaghaft begann sie zu rufen, zurück aber kam nur einsam das eigene schwache Echo.
Kurz vor Mitternacht schreckte sie aus ihrem Halbschlaf hoch, als krachend die Haustüre ins Schloss fiel. Dann war Ruhe. Nur das schwere Atmen des Vetters kam aus dem Gang. Eine Weile später vernahm sie, wie die Türe zum Behandlungszimmer geöffnet wurde, in dem noch Schubladen auf- und zugezogen wurden, bald darauf seine tapsenden Schritte auf der knarzenden Stiege, die immer wieder innehielten.
Von mir aus!, dachte Dorothe zornig, verräumte das Geschirr und ihr Stickzeug, tauchte ein Buchenscheit in den Wasserkübel, das sie dann in den Herd warf, um am Morgen noch etwas Glut zu haben. Leise zog sie sich zurück in den stockdunklen Bereich der Küchentüre, während der Vetter mit ächzendem Schnaufen von oben herunterwankte, wobei er sich auf jeder Stufe mit dem Ellbogen an der Wand abzustützen schien. Soweit sie es im schwachen Licht der Laterne ausmachen konnte, hielt er irgendetwas in den Händen. Etwas Großes, ein Bündel, nach seinen Bewegungen zu schließen zudem offenbar etwas nicht ganz Leichtes. Das Bäsle getraute sich kaum zu atmen. Mit einem erleichterten Aufstöhnen hatte der Vetter nun endlich den ebenen Boden erreicht, und als er sich in ihre Richtung wandte, entfuhr ihr ein Aufschrei. Zuerst glaubte sie, die vom langen Sticken übermüdeten Augen spielten ihr einen Streich. Ungläubig starrte sie nach vorne, aber was sie dort sah, war keine Täuschung. Wieder schrie sie, gellte noch lauter als vorher.
»Halts Maul, du weckst ihn ja auf!«, fuhr sie der Vetter grob an.

***
Schon seit Tagen schneite es nun ununterbrochen und der Schnee lag bereits so hoch, dass auch das Wild in arge Bedrängnis kam. Der Gräsalp zu hatten einige Holzarbeiter mit bloßen Händen sechs erschöpfte Rehe gefangen, die in den Massen stecken geblieben waren und nun ging der Streit hin und her, wem sie gehörten: Den Fängern, dem Forst, dem Jagdpächter oder der Armenkasse, wie es der Vetter Weber forderte. Im Gemeinderat lagen sie sich zudem auch noch wegen dem Bachter aus Sibratsgfäll in den Haaren, der die mittellose Nümmaschmiedin heiraten wollte. Die Sibratsgfäller waren damit einverstanden, weil der Maurer Bachter ein ziemlich ordinäres Mannsbild war und sie ihn so loszuwerden hofften. Was dazwischen kam, war die etwas verfrühte Niederkunft der Nümmaschmiedin, worauf die Sibratsgfäller die Heiratserlaubnis wieder zurückzogen aus Angst, die Schoppernauer würden dasselbe tun und er könnte zurückkommen und ihnen nun nicht mehr allein, sondern mit der ganzen Bagage auf der Tasche liegen. Wie erwartet, wollten nun auch plötzlich die Schoppernauer den Bachter nicht mehr und verweigerten den Beiden ebenfalls die Zustimmung zur Ehe, die in ihrer Not keinen Ausweg mehr wussten, als sich an Franzmichel zu wenden, der nun jedes Ausschussmitglied einzeln bearbeitete und den einen oder anderen auch daheim aufsuchte.
„Es ist doch besser, die Beiden heiraten einander als dass sie einen Hort der Unsittlichkeit und des fortdauernden Ärgernisses bilden!“, war er auch gerade wieder bei zweien der Gemeinderäte vorstellig geworden und schritt nun gedankenverloren, die Zipfelmütze fest über die Ohren gezogen dem Oberdorf zu.
„Grüß Gott! Das trifft sich ja gut!“
Franzmichel erschrak leicht, weil er sich weitum alleine gewähnt hatte und erkannte dann erst jetzt den Pfarrer Rüscher, der ihm im Schneetreiben entgegen kam.
„Ich wollte mein Versprechen einlösen und Euch endlich einmal besuchen und habe schon geglaubt, ich hätte den Weg umsonst gemacht, da man mir gesagt hat, Ihr wäret nicht da!“
Wie selbstverständlich machte der Hochwürden kehrt, fragte im gemütlichen Plauderton dies und jenes und Franzmichel schilderte ihm den Grund seines nachmittäglichen Ganges, wiederholte, es wäre doch besser, wenn die Beiden nicht in wilder, sondern in ehelicher Gemeinschaft zusammenleben könnten, worauf sich aber der Pfarrer ziemlich bedeckt hielt und nur lapidar meinte, das sei auch Sache der Gemeinde und er wolle sich da nicht einmischen.

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Während des Mittagessens hatte das Wible plötzlich große Augen gemacht und nur gesagt: „Jetzt geht’s los!“, hatte ohne ein weiteres Wort ihrem verdutzten Mann den kleinen Kaspar, den sie gerade mit Brei fütterte auf den Schoß gesetzt, war dann aufgestanden und zusammen mit Marie im Gaden verschwunden. Schon ein paar Minuten darauf rief seine Mutter aus dem Schlafzimmer, er sei Vater eines dort aus Leibeskräften schreienden Mikles. Der später herbei geholten Hebamme blieb nichts mehr zu tun, als die Gesundheit des Kindes festzustellen und damit der Weg herein von Au nicht ganz umsonst gewesen war zum Ausgleich noch lang und breit die Vorzüge und Nachteile von schnellen und langsamen Geburten zu explizieren. Am Abend nach dem Sennhaus suchte Franzmichel noch den Pfarrhof auf, um dort die Ankunft von Maria Katharina auf dieser Erde zu vermelden und einen Tauftermin zu vereinbaren. Der Pfarrer Rüscher schien sich über die neue Seele in seiner Gemeinde herzlich mitzufreuen und auch der Name gefiel ihm ausnehmend gut.
Da er schon einmal da war, brachte er aber nochmals sein Anliegen wegen der immer noch in wilder Ehe lebende Nümmaschmiedin und dem Bachter vor, jedoch auch heute wollte dazu der Hochwürden keine klare Stellung beziehen und riet ihm schließlich, sich in dieser Angelegenheit nicht noch weiter aus dem Fenster zu lehnen, da es darüber schon genug böses Blut geben würde.
„Aber ein Machtwort von Ihnen – und es wäre doch Ruhe! Es müsste ja nicht gleich von der Kanzel sein!“, gab er nicht nach.
„Die Beiden sind nicht würdig für das Sakrament der Ehe. Ihr wisst selber, es sind gewöhnliche und vulgäre Leute!“
„Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“, erwiderte Franzmichel.
Dies ist eine Entscheidung, die auch noch andere Betrachtungsweisen zulässt, die Euch wohl bekannt sind und in die ich mich nicht einmischen möchte!“, versuchte der Pfarrer nun die Verantwortung wieder dem Gemeinderat zuzuschieben.
„Also gut!“, lenkte er dann doch noch leicht genervt ein, „Ich werde sehen, was in meiner bescheidenen Macht steht.“

***
Franzmichel war nicht beleidigt, dass es diesmal der Hochwürden war, der ihn loswerden wollte. Als er gleich darauf den Pfarrhof verließ, hatte es wieder leicht zu schneien begonnen, was ihn aber nicht davon abhielt, noch Oberhausers aufzusuchen, um diesen die Ankunft des Mikles mitzuteilen. Bald schon aber drehte sich das Gespräch um den Handwerkerverein, den sie gründen wollten und für den besonders der Kaspar Feuer und Flamme war. Angelehnt an die alte Auer Zunftordnung sollte dieser Zusammenschluss den Schoppernauer Handwerkern gemeinsam die Annahme und Ausführung von Aufträgen ermöglichen, die einen Einzelnen überfordert hätten.
„Die jungen Burschen, die in der Fremde ihr Geld verdienen müssen, ehe sie genug beisammen haben um hier etwas anfangen zu können...für die sollten wir uns doch auch etwas einfallen lassen!“, regte der Josef an.
„Ein zinsloses Darlehen?“, schlug Kaspar vor.
„Das hängt von der Anzahl der Mitglieder und der Höhe der Beiträge ab“, antwortete Franzmichel und meinte dann, dass man diesen Punkt vorläufig nach hinten stellen sollte, bis abzuschätzen war, wie viele überhaupt gewonnen werden könnten.

Spät war es geworden, als er sich wieder auf den Weg machte und Schoppernau lag schon in tiefer Nachtruhe. Auch in seinem Haus waren schon alle Lichter gelöscht, als er sich behutsam mit einer brennenden Kerze über die knarrenden Dielen dem Gaden zu tastete und die Türe einen Spalt weit öffnete.
„Wible?“, flüsterte er leise.
Aber nur Nannis gleichmäßige Atemzüge waren zu hören und im flackernden Schein lag das winzige Mikle in ihrem Arm.
Ein heiße Woge der Dankbarkeit stieg in ihm hoch. Was waren bei all dem Glück um ihn herum dagegen doch die finanziellen Sorgen? Was war schon die tote Materie des Geldes gegen die lebendige Frucht einer Liebe? Irgendwann würden sie halt einen Löffel mehr auf den Tisch legen. Eine schon lange nicht mehr gekannte Leichtigkeit gepaart mit einem gleichzeitig beinahe wildem Tatendrang erfasste ihn. Langsam, bemüht, jeden störenden Laut zu vermeiden, bewegte er sich wieder zurück. Oben an seinem Futtertrog öffnete er nach langer Zeit wieder das Manuskript des „Dorffreimaurers“ und ihm war, als ob ihm plötzlich all das von selbst zufiele, wonach er sich vergeblich den Kopf zermartert hatte. Erst als die Gedanken anfingen ungeordnet herumzupurzeln, legte er den Bleistift beiseite und begab sich nach unten, wo er gleich darauf neben Nanni und dem Mikle in einen tiefen, friedlichen Schlaf fiel.